So darf ich sein. Erinnerungen an Superintendent i.R. Helmut Flender

In dieser Woche, am 29. August 2021, jährt sich der Todestag von Superintendent i.R. Helmut Flender zum fünfzehnten Mal. Als Prediger und Seelsorger hat Helmut Flender viele Siegerländer:innen darin unterstützt, einengende und lebensfeindliche Frömmigkeitsmuster abzulegen und die "herrliche Freiheit der Kinder Gottes" (Röm. 8, 21) für sich selbst zu entdecken und sie zu genießen.

von Heike Dreisbach

 

Hier geht es zu einem Artikel  über das Leben und Wirken von Helmut Flender 
auf der Homepage des Ev. Kirchenkreises Siegen.


Ein kleines Büchlein als Vermächtnis

In seiner Freizeit fotografierte Helmut Flender leidenschaftlich gerne. 2006, kurz vor seinem Tod, erschien im Kawohl-Verlag ein kleiner Bildband mit einer Auswahl seiner Fotos mit passenden meditativen Texten: Ein kostbares Vermächtnis!

Wer Helmut Flender näher gekannt hat, wird ihn in seinen Bilder und Texten höchstwahrscheinlich sofort wiedererkennen. Mir persönlich ging es so, dass ich beim Lesen und Abschreiben der Meditationen geradezu meinte, seine Stimme hören zu können, mitsamt ihrem leicht augenzwinkernden Unterton.

"So darf ich sein" ist inzwischen leider längst vergriffen. Immerhin: Antiquarisch ist es noch erhältlich. Mit freundlicher Genehmigung des Kawohl-Verlags dürfen wir dankenswerter Weise eine Auswahl auf diesem Blog veröffentlichen. Herzlichen Dank dafür!


Und nun lest und schaut selbst: "So darf ich sein":

 


Aus dem Vorwort:


Bilder und Texte für den Weg zu sich selbst 

- was ist damit gemeint?


Nehmen Sie sich Zeit, innezuhalten und wahrzunehmen, an "Kleinigkeiten" hängen zu bleiben, den Kopf zu schütteln oder laut loszulachen. Vielleicht gibt es ja eine Verbindung zwischen dem, was sie sehen und sich selbst.

Erlauben Sie sich, so zu sein, wie sie gerade dran sind: So darf ich sein. Unfertig, einseitig, stachelig, widersprüchlich, wunderbar, stützend, strahlend, träumend, spiegelnd, sterbend, lebend...

Ein Schriftsteller der alten Kirche hat formuliert:

In allem, was ist, leuchten Gottes Strahlen.

(D. Aeropagita)

Also auch in Ihnen! 

Vielleicht hilft Ihnen dieses Buch, davon etwas (mehr) zu entdecken.

Helmut Flender

 


So darf ich sein

Ein großes Feld
ist auf dreierlei Weisen bestellt.
 
Auf  dem Stück im Vordergrund
hat der Bauer Gras wachsen lassen.
Man kann darüber laufen
oder darauf spielen,
ohne dass Schaden entsteht.
 
Auf dem anderen Stück 
hat er kürzlich gesät.
In geraden und krummen Furchen
sind die ersten Halme gesprosst,
Hoffnung auf Ernte wächst.
 
Auf dem dritten Stück hat er gepflügt,
das Oberste zuunterst gekehrt.
Einzelne Steine werden erkennbar,
von denen der Regen die Erde abgewaschen hat.
Wann man darüber läuft,
bleiben dicke Erdklumpen an den Füßen hängen.
 
Manchmal gleiche ich diesem Feld:
Ich fühle mich übergangen
und bin gleichzeitig voller Hoffnung.
Ich bin im Umbruch
und habe auch festen Boden unter den Füßen.
Die Tränen haben manches Schwere abgewaschen
und doch hängt mir noch allerlei um die Füße.
Ich fühle mich ausgelaugt und abgestumpft,
und bin doch auch sensibel und aufnahmebereit.
 
So darf ich sein,
nebeneinander, gleichzeitig.
 
Und so dürfen meine Mitmenschen
auch sein.
 
 
 
 

Wo will ich hin?

Ein Wegweiser oberhalb von Mürren in der Schweiz
mit mehr als einem Dutzend Hinweisen.

Für jeden scheint etwas dabei zu sein:
Eisenbahnliebhaber,
Mountainbiker,
Seilbahnfans,
Kinder,
die schon Englisch sprechen.
Alle bekommen einen Hinweis,
die meisten mit genauen Zeitangaben,
die Schweiz ist eben ein pünktliches Land.

Für alle gleich verbindich
ist das weiße Quadrat in der Mitte,
auf dem der Standort
und die Höhenangabe zu lesen sind.

Was nützen mir die vielen Wege,
wenn ich nicht weiß, 
von wo ich ausgehe?

Standortbestimmungen sind erforderlich.

Wo stehe ich?
Wie hoch bin ich gekommen?
Wie viel Tiefe ist unter mir?
Warum stehe ich gerade hier?
Ist es gut hier?
Will ich weg oder muss ich weg?
Wer sagt, dass ich das muss?

Wo will ich hin?
Wo will ich sein - 
in zwei Stunden,
in einer Woche,
in einem Jahr, 
in fünf Jahren?


 


Beschlagen

In Beatenberg am Thuner See
haben Straßenarbeiter die Straße neu geteert.
Sie haben ein Schild aufgestellt,
über das ich erst geschmunzelt habe.
Aber mir war sofort klar:
Beschlagene Huftiere
würden Löcher in den weichen Teer treten
und so weitere Schäden vorprogrammieren. 

Manche Tiere müssen beschlagen werden,
ihre Hufe sollen hart und ausdauernd sein
und brauchen guten Tritt im Gelände.
Auf einem frisch geteerten Weg,
auf einer weichen Oberfläche,
aber haben sie nichts verlorgen,
jedenfalls noch nicht.

Manche Menschen scheinen auch 
beschlagen zu sein.
Sie gehen hart und unnachgiebig
mit ihren Mitmenschen um.
Sie achten nicht darauf, ob der Untergrund noch weich
oder schon abgehärtet ist.
 
Sie denken, Härte kann nie schaden.
Sie machen Druck, wollen beeindrucken.
Sie dringen ein und löchern.
Sie machen einen Auftritt und lassen andere betreten zurück.
 
Sie merken die Schäden nicht,
die sie anrichten oder vorprogrammieren.
 
Wer stellt so ein Schild auf
für sie - für mich?
 
 
 
 
 
 

Leben ist (fast) überall möglich

Am Rand der Straße
ist im Asphalt ein Riss entstanden,
groß genug für ein paar Tannennadeln.
Voller Staunen entdecke ich,
dass darin etwas wachsen kann.
Offenbar haben sich Samenkörner unter die Nadeln gemischt,
haben irgendwie so etwas wie Erde gefunden
und treiben aus.


Voller Bewunderung stelle ich fest:
Leben ist (fast) überall möglich.
Leben setzt sich durch
an unmöglichen Orten. 

Und ich sehe andere Bilder vor mir:


Mein fast erblindeter Onkel im Altenheim
erklärt mir glaubhaft:
Es geht mir gut!


Meine alleinerziehende Nachbarin
strahlt Glück aus mit ihrem Kind auf dem Arm
und der Einkaufstüte am anderen Arm.


Ein Jugendleiter schmeist die Brocken nicht hin,
obwohl die Mittel wieder einmal gekürzt werden
und die Jugendlichen sich verbittert zurückziehen.


Ein Bankdirektor erhöht den Kreditrahmen
für eine Firma. 500 Arbeits- und 20 Ausbildungsplätze
sollen erhalten bleiben, er will den Menschen
auch zukünftig in die Augen schauen können.


Kinder in Elendsvierteln lachen strahlend in die Kamera.


Oppositionelle in Diktaturen
gehen lieber noch einmal ins Gefängnis
als dass sie  den Glauben an Demokratie,
Gerechtigkeit und Freiheit aufgeben.


Das Leben - 
eine unbändige Kraft
in der Welt
und in den Menschen


Ich will diese Kraft entdecken
sie glauben und leben.
 
 
 

 Misthaufen sieht man selten


Ein Misthaufen auf der Aueralm
bei Bad Wiessee im Tegernseer Land.
Wer den Mist gemacht hat,
ist kaum zu erkennen,
dafür um so deutlicher die Schubkarre,
mit der er befördert wird.

Misthaufen sieht man selten,
sie passen nicht in unsere herausgeputzten Orte.

Auch unseren eigenen Mist
halten wir am liebsten versteckt,
auch wenn das viel Aufmerksamkeit
und Kraft kostet.

Manchmal wünsche ich mir,
ich könnte den Mist,
den ich gemacht habe,
in eine Schubkarre packen und auskippen
an einen Ort, wo es erlaubt ist,
Mist abzuladen.

Dort möchte ich andere treffen,
die ihren Mist auch nicht mehr
unter den Teppich kehren wollen.
Ich möchte mit ihnen darüber sprechen,
wieso und warum
wir wieder mal - 
ganz gegen unsere Absicht - 
Mist gebaut haben.

Und wir gingen erleichtert
und klüger von dannen.




Kann Sterben so schön sein?

Der Herbst malt die Blätter bunt,
gelb, rot, orange, braun
und hier und da noch etwas grün.
Dazwischen - wie reife Früchte - der Himmel.

Jedes Jahr neu staune ich
über die Farbenpracht.
Sie tut meiner Seele gut.
Wann schon stellt sich mir
die Welt so bunt und warm dar?

Dabei ist der Herbst Abbild
eines grandiosen Sterbens.
Die Blätter liegen in Kürze auf dem Boden,
sie werden zertreten, überfahren - 
oder zersetzen sich und bilden neue Erde.
Neue Knospen sind oft schon erkennbar,
wenn die letzten Blätter gefallen sind.
Ohne das Fallen der alten
kein neues Wachstum der neuen.
 
Kann Sterben so schön sein?
 
Ich will vom Herbst lernen:
Das Abnehmen und Fallen
gehört am Ende mit dazu.
Ich will mich bereit machen zu gehen
und nicht immer denken,
es müsste doch eigentlich alles mal wieder viel besser werden.
Ich will gern Platz machen,
nicht ohne zu genießen,
was alles noch bunt und schön ist.
 
 
 

Jenseitiges Licht

Das Ostufer des Chiemsees im Gegenlicht.

Schneebedeckte Berge im Hintergrund.
Im Vordergrund ein Baum
mit dicken Ästen und jungen Trieben,
die mit dem jenseitigen Ufer zu spielen scheinen.
 
Ein reizvoller Gedanke:
Am Ufer hier festen Stand haben
und das jenseitige in den Blick nehmen.
In der Gegenwart "seinen Mann stehen"
und mit dem Jenseits in Verbindung sein.
Wissen, dass die Tage hier gezählt sind.
Und doch spüren, dass noch etwas kommt.
 
Ahnen mehr als Sehen.
Glauben.
 
Das Gegenwärtige
durchscheinend für das Jenseitige.
Das Licht von vorn,
jetzt erträglich nur in Reflexionen,
wo die große Sonne
sich in viele kleine aufteilt.
 
Irgendwann aber
bedarf es keines Astes
und keiner Spiegelung mehr.
Irgendwann sehe ich ohne Einschränkungen.
 
Dann werde ich stehen im Licht.
im jenseitigen ewigen Licht.
 
 




... Annette Kurschus, heute Präses der Ev. Kirche von Westfalen, war 2006 Pfarrerin der Ev. Kirchengemeinde Weidenau, zu der Helmut Flender und seine Ehefrau Carmen Flender gehörten. Annette Kurschus beendete ihre Ansprache bei der Beerdigung von Helmut Flender, in dem sie diesen Text zitierte ...





 



Kommentare

  1. Durch Sup. Helmut Flender wurde die jährliche Kirchentour des Heimatbundes Siegerland-Wittgenstein ins Leben gerufen. Hier habe ich auch Frau Flender kennen gelernt. Stets ein schönes Gespräch. Im Sinne von Helmut Flender ist die Besichtigung der heimischen Gottes-häuser immer ein beliebter Termin, meist im Frühjahr.

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