Erinnerungen an Pfarrer Ulrich Weiß: Seine letzte Predigt als Gemeindepfarrer und ein Nachruf


Vor zehn Jahren, am 30. Juni 2011, verstarb Pfarrer Ulrich Weiß vollkommen unerwartet im Alter von 70 Jahren. Unter der Überschrift "Büchernarr und Menschenfreund" erinnert der Ev. Kirchenkreis Siegen an den weit über die Grenzen des Siegerlandes hinaus geschätzten und beliebten Theologen, Seelsorger und Pietismusexperten. Lesen Sie hier seine letzte Predigt als Gemeindepfarrer, sowie einen Nachruf von Pfr. i.R. Raimar Leng.  


"Jesus Christus ist gestern und heute derselbe und in Ewigkeit" (Hebräer 13, 6): Die letzte Predigt von Ulrich Weiß als Gemeindepfarrer

Die Predigt für den Silvesterabend 2001, seine letzte als Gemeindepfarrer, musste Ulrich Weiß mitten im Umzug vorbereiten. Das sei kein leichtes Unterfangen gewesen, erinnert sich seine Ehefrau Astrid Weiß. 

Zwar sei der Transfer von Möbeln und Hausrat vom großem Pfarrhaus auf dem Siegener Wellersberg ins neue Domizil im Siegener Süden einigermaßen glücklich vonstatten gegangen. Ans  Bücherkistenauspacken, mitten im Trubel, sei allerdings vorerst noch nicht zu denken gewesen. Die allernötigste Lektüre habe ihr Mann sich wohlweislich früh genug beiseitegelegt. Als es jedoch ans eigentliche Predigtschreiben hätte gehen müssen, sei offenkundig geworden, dass etwas ganz und gar Entscheidendes gefehlt habe: das nötige Papier! Rasch neues zu beschaffen, sei keine Option gewesen. Hätten doch alle Geschäfte geschlossen gehabt bis zum Silvestermorgen.

Aber Not macht bekanntlich erfinderisch. Nachdem alles Suchen und Herumkramen nicht geholfen hatte, schrieb Ulrich Weiß seine Predigt schließlich auf das einzige Papier, dessen er habhaft werden konnte: Die freien Seiten in der Haushaltskladde seiner Ehefrau. 

  

In diesem umfangreichen Notizbuch ist die Predigt bis heute nachzulesen. Niedergeschrieben in der charakteristischen Handschrift von Ulrich Weiß, zwischen Putz-und Speiseplänen, unmittelbar neben der Auflistung, was seinerzeit für den Sperrmüll angemeldet werden musste. 

Ein herzliches Dankeschön gilt deshalb Astrid Weiß, die uns diesen besonderen Schatz zugänglich gemacht hat! Von ihr stammen auch die Hervorhebungen im Text, denn "alles muss von seiner Sprachmelodie her verstanden werden".

 

Hebräer 13,8: "Jesus Christus ist gestern und heute derselbe und in Ewigkeit"


Liebe Gemeinde!

In den Kalendergeschichten von Bert Brecht lesen wir, daß jemand zu Herrn K. sagte: „Sie haben sich aber auch gar nicht verändert.“ „Oh“, sagte Herr K. und erbleichte.

Und ich weiß nicht, wie es Ihnen mit der Feststellung oder gar mit dem Kompliment ergeht: „Du hast Dich aber gar nicht verändert.“ Mir geht als allererstes die selbstkritische Frage durch den Kopf: Meint er oder sie das im positiven oder im negativen Sinn?

Und zu den Werten unserer heutigen Gesellschaft zählt sicherlich, daß ein Mensch flexibel und mobil ist, daß er sich auf neue Situationen einstellen kann, daß jemand zu einem Berufswechsel bereit ist, vielleicht sogar sich auf einen Ortswechsel einläßt, mit unterschiedlichen Arbeitsformen einverstanden ist usw.

Solche Werte sichern das Überleben. Aber wenn ich an Flexibilität und Mobilität beim Ehepartner denke, dann werden mir wenigstens alle diese Werte höchst zweifelhaft. Kann über einen Menschen etwas Schöneres gesagt werden als: Du bist mir treu geblieben. Er ist sich treu geblieben. Wenn Menschen am Ende eines Jahres so voneinander sprechen können, wie könnte das von Übel sein?

Und doch bleibt die Ambivalenz, unsere Ambivalenz. Ein Mensch, der heute dieselben Ansichten vertritt wie vor 20 oder 25 Jahren, und das auch noch mit denselben Worten tut, kommt einem auch versteinert und verknöchert vor.

Tübingens Theologische Fakultät hatte vor und während des Krieges, aber auch danach einen Professor für Praktische Theologie. Sein Lehrerfolg war unterschiedlich. Während des Dritten Reichs hatte er bei den Studenten wohl eine hohe Resonanz, nach dem Krieg verliefen sich die Studenten. Seine Frau kommentierte diesen Vorgang mit dem erstaunten Kopfschütteln und der Bemerkung: Dabei liest mein Mann doch heute noch dasselbe wie vor 15 Jahren.

Und allerorts zählt es zu dem Wunderbaren, wenn einer seinen Überzeugungen treu bleibt und das auch von seinen Mitmenschen anerkannt und respektiert wird. Es ist doch schon etwas, wenn jemand wie ein Fels in der Brandung steht, auch wenn die Knie weich werden. Mit dieser Bemerkung bin ich übrigens beim Hebräerbrief angekommen, dem viele in der Gemeinde als schwankendes Rohr vorkamen, denen der Boden unter den Füßen wackelt. Geradezu in der Mitte des Briefes heißt es als Anrede an die Gemeinde: „Lasset uns das Bekenntnis der Hoffnung festhalten ohne Wanken, denn treu ist der, welcher die Verheißungen gegeben hat.“ Damit wird menschliches Verhalten an göttliches Verhalten geknüpft, ja, menschliches Verhalten, in diesem Falle Treue und Zuverlässigkeit, mit göttlicher Treue, mit dem Ja seiner Verheißungen begründet. So nimmt es nicht wunder, sondern ist eher logisch, daß das Finale des Hebräerbriefs in Kapitel 13 in dem Satz mündet: Jesus Christus – gestern und heute derselbe, und auch in Ewigkeit.

Es wäre fatal, meine Schwestern und Brüder, wenn Jesus Christus so in den Strudel der Geschichte und Ereignisse hineingeriete, daß er für uns nicht mehr -  ?
 - wer denn?
Was verkörpert er für uns?
Für was steht Jesus Christus eigentlich für dich und für mich,
daß er nicht mehr das Haupt seiner Gemeinde,
daß er nicht mehr der Herr der Welt,
daß er nicht mehr unser Versöhner unserer Feindschaften zu Gott und Erlöser von unseren Sünden, aber auch Erlöser unserer aus den Fugen geratenen Welt, die auch ohne den Schock vom elften September aus tausend Wunden blutet,
daß er uns nicht mehr als unser Bruder und Freund auf Augenhöhe begegnet, dem ich im Auf und Ab unseres Lebens vertrauen kann, worauf Verlaß ist,
daß er nicht mehr der Hohepriester ist – um endlich die Sprache und das Anliegen des Hebräerbriefes anzunehmen – der Hohepriester, dessen einmaliges Opfer alle Opfer in dieser Welt überflüssig macht, der aber auch keine Menschenopfer will, schon gar nicht – überflüssig zu bemerken – von Terroristen.

Hoherpriester – er ist unser Zugang zu Gott und er ist unsere Repräsentanz bei dem himmlischen Vater: Frage 31 „Warum wird er Christus, das heißt <Gesalbter>, genannt? Er ist von Gott dem Vater eingesetzt …zu unserem einzigen Hohenpriester, der uns mit dem einmaligen Opfer seines Leibes erlöst hat und uns allezeit mit seiner Fürbitte vor dem Vater vertritt…“ Ich spreche hier für mich, aber ich möchte schon allgemeinverbindlich für die Christenheit sprechen, wenngleich wir die Freiheit haben, unsere Akzente zu setzen, unserer Individualität Raum zu geben. Nur damit wird Jesus Christus nicht zu einer Wachsnase, die ich nach Belieben kneten und formen kann.

Jesus Christus ist gestern und heute derselbe und ist es auch morgen bzw. in alle Ewigkeit. Es ist doch gut bzw. unsere Hoffnung, daß er für uns da ist, daß er sich für uns entschieden hat, daß er für uns eintritt und eintreten wird, daß er im Gericht – lieben Leute – derselbe ist wie am Kreuz: nämlich für uns; der zum Gericht wiederkommen wird, ist derselbe, der für uns seinen Kopf hingehalten hat.

Die Anfechtung unseres Gottesglaubens, wahrscheinlich muß ich meines Glaubens sagen, kann doch nicht das Grauen vom 11.September sein, waren die KZ’s oder Hiroshima weniger schlimm? Ich fürchte, wir haben uns durch die lange Friedensperiode nach 1945 im Westen ein zu optimistisches Weltbild angeeignet, und Amerika mag sich zusätzlich für unverletzlich gehalten haben, so daß unsere Erschütterung der der Menschen im sonnigen Aufklärungszeitalter gleicht, im 18.Jahrhundert. Damals zerstörte das Erdbeben von Lissabon den Optimismus der Aufgeklärten und riß durchdachten wie auch ganz naiven Gottesglauben entzwei.

Wenn mich der 11.September an Gott zweifeln läßt, dann müßte ich doch noch eher an ihm zweifeln, daß er den einzigen Gerechten, Jesus  Christus, am Kreuz bestialisch verkommen läßt. Das Kreuz ist kein Schmuckstück, sondern eine offene Wunde unserer Welt. Jesus ist doch durch ein solches Inferno wie den elften September hineingestoßen und gerissen worden, obwohl er keiner Fliege etwas zuleide getan hat.

Indem Gott den Gekreuzigten nicht im Tode ließ, ihn auferweckte, nach der Sprache des Hebräers: „Er ist in den Himmel selbst gegangen, um jetzt zu unseren Gunsten vor Gott zu erscheinen!“ Indem Gott so handelt, macht er den Tigersprung auf den Nacken des Todes und alles Leides, das wir kennen und uns auch ganz persönlich drückt, unser eigenes Kreuz, an dem wir leiden. Und Gott setzte damit das Zeichen für das endgültige Kommen des neuen Himmels und der neuen Erde, wo Gerechtigkeit herrschen wird. Und darum auch Jesus Christus in Ewigkeit.

Wir stehen an einer Schwelle:

An der Ausgangsschwelle dieses Jahres mit dem elften September, der ja nun viele so schwer erschütterte, daß sie schon eigene Krankheiten und Versagungen als ihren elften September deuten und bezeichnen.
An der Ausgangsschwelle unseres Jahres 2001 mit doch so ganz unterschiedlichen Ereignissen, Krisen, der Trauer, aber doch auch Freuden. Wir haben Menschen neu kennengelernt, haben die Liebe und die Zuwendung eines Menschen unerwartet und beglückend erfahren, wurden mit dem Wunder des Lebens konfrontiert.
An der Schwelle zum Jahr 2002 mit den Gewißheiten und Ungewißheiten,
die mit dem Euro zusammenhängen, der ab morgen als scheues Reh durch unsere Hände geht oder gleitet,
die aber auch mit der Frage ineins gehen: wie werde ich neuen Lebenssituationen standhalten? Ruhestand, Pensionierung, Umzug, Auszug von Kindern, Leben mit einer Krankheit, Krankheit als Schicksal… ?
In alledem gibt es nur die eine Verheißung: Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und auch in Ewigkeit. Derselbe – d.h. für uns. Er ist für uns, auch wenn ich etwas anderes empfinde und erlebe, wenn andere mich in Abgründe treiben, weil sie das „für uns“ in Frage stellen und bezweifeln und alle anderen verunsichern.

Und wenn Jesus Christus für uns ist, dann kann ich mir für unser Leben, für mein Leben nichts Schöneres vorstellen, als daß ich mit ihm bin, daß du mit ihm bist. Petrus war entsetzt, als ihm die Magd im Vorhof des Priesters sagte: „Du warst doch auch mit ihm.“ Er glaubte, dazu zu stehen, kostete ihm den Kopf.

Aber das wäre doch eine Antwort, eine Lebensantwort: mit ihm. Mir schrieb jetzt einer einen Brief zum Abschied aus dieser Gemeinde, wenn da auch drin gestanden hätte: „Du warst mit ihm.“, ich wäre glücklich gewesen. „Mit ihm sein“ war mir mehr als alle Erfolge und Mißerfolge, das könnte ich mir gut auf meinem Grabstein vorstellen: „Dieser war auch mit ihm“. Ja, doch, wenn der Vordersatz lautet: Jesus Christus ist für uns gestern und heute und in Ewigkeit. Was kann uns dann schon das Jahr 2002 tun?

Wir beten in der Stille…

Amen

 

 Hebräer 13,8: "Jesus Christus ist gestern und heute derselbe und in Ewigkeit"

Dieser Vers steht auch auf dem Grabstein von Ulrich Weiß. 


 

Den folgenden, höchst lesenwerten Nachruf, 2011 verfasst von Pfr. i.R. Raimar Leng, abgedruckt in: Siegener Beiträge, Jahrbuch 16  für regionale Geschichte 2011, dürfen wir mit freundlicher Genehmigung von Autor und Herausgeber an dieser Stelle veröffentlichen. Herzlichen Dank dafür!
 

Anwalt der reformierten Glaubensprägung, Pietismusexperte, Weggefährte und Freund - zum Tod 

von 

Pfarrer i. R. Dr. h. c. Ulrich Weiß

(* 18.4.1941 - † 30.6.2011)

Als Ulrich Weiß am 11. Mai 2011 von der philosophischen Fakultät der Universität Siegen den wohlverdienten Titel eines „Doktor honoris causa“ überreicht bekam, geschah dies einerseits zu seiner großen Überraschung und Freude, und dieses besondere Ereignis gehörte zum Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn. Andererseits aber ließ er unvermittelt durchblicken, dass diese ehrenvolle Würdigung trotz allem nicht der Höhepunkt seines Lebens sei. Darin kam deutlich spürbar sein bescheidenes Wesen zum Ausdruck, sowie das lebenserfahrene Wissen, dass Ehrungen zwar wohltuend, würdigend und bereichernd sind, aber dennoch im Gegenüber zum Reichtum aus der Begegnung mit Menschen hinten anstehen müssen. Sein Wissen, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, lehrte ihn dieses schöne Geschenk für seine qualifizierte und aufwendige Forschungsarbeit diesbezüglich zu relativieren. So war er: offen und ehrlich, herzlich und zugleich theologischer Denker. Ihm war allezeit bewusst, wem er seine Möglichkeiten zu verdanken hatte, dass er selbst nur ein Bote der guten Nachricht Gottes war und dass Ehrentitel zwar eine schöne Bestätigung für das eigene Tun sein können, aber vor Gott letztlich ohne Bedeutung sind.

Wer hätte gedacht, dass dieses Leben schon wenige Wochen nach dieser Ehrung ein jähes Ende finden würde.

Im Jahr 1941 in Altenhundem geboren, wuchs Ulrich Weiß in Niederdielfen auf. Sein Abitur legte er am Städtischen Gymnasium Siegen, dem heutigen „Gymnasium am Löhrtor“, ab. Er entschied sich dann für das Theologiestudium, das ihn nach Tübingen, Heidelberg und Göttingen führte. Einen Teil seines Vikariats verbrachte er als Inspektor des Reformierten Studienhauses in Göttingen, um dann zusätzlich auch noch sein Gemeindevikariat anzutreten.

Ich selbst bin Ulrich Weiß vor etwa 40 Jahren zum ersten Mal begegnet, als er als junger Vikar bei Pastor Alfred Steup im Westbezirk der Siegener Christuskirchengemeinde seine Ausbildung in der praktischen Gemeindearbeit vervollständigte. Ein fröhlicher Gesell, der eine große Lebendigkeit mitbrachte, zugleich aber auch immer mit der gebotenen theologischen Ernsthaftigkeit zu Werke ging. Das war für uns Jugendliche deutlich spürbar, und wir waren froh, in ihm einem uns zugewandten und aufgeschlossenen Menschen zu begegnen, der uns mit seinem anspruchsvollen und offenen theologischen Denken herausforderte und mit der ihm eigenen Leidenschaft Theologie zu betreiben faszinierte. Er hat uns, wie sein Vikarsvater Alfred Steup, vor einer zu einengenden Frömmigkeit bewahrt. Viele junge Menschen meiner Generation hat dies nachhaltig geprägt.

An sein zweites theologisches Examen schloss sich eine zweijährige Studieninspektorenzeit am Elberfelder reformierten Predigerseminar an, ehe er von 1972-1978 seine erste Pfarrstelle in der reformierten Gemeinde Hohenlimburg antrat. Anschließend wurde er von der Christus-Kirchengemeinde Siegen umworben, wo er dann auch für 23 Jahre Pastor gewesen ist. Nachhaltig hat er seine Gemeinde geprägt. Dem theologischen Profil der Christuskirchengemeinde hinter dem Bahnhof, nämlich im Sinne Karl Barths Theologie zu betreiben, hat Ulrich Weiß ein unverwechselbares Gesicht gegeben. Und, was viele Menschen damals auch fasziniert hat, war das offene Pfarrhaus der Familie Weiß, die trotz dreier eigener Kinder nicht zögerte, in Not geratenen Menschen bei dringendem Bedarf für eine gewisse Zeit Unterschlupf zu gewähren.

In dieser Zeit hat er diverse übergemeindliche Aufgaben wahrgenommen, da er ein gefragter, äußerst belesener und intelligenter Theologe und weitsichtiger Denker war. Unter anderem arbeitete er etliche Jahre im Moderamen des reformierten Bundes mit, war über viele Jahre Delegierter der Siegener Kreissynode auf der Landessynode. Er gehörte dem landeskirchlichen theologischen Ausschuss an und vertrat dort die Farben der Siegerländer reformierten Kirche und war Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche der Union. Außerdem hat er über einige Jahre das Amt des Synodalassessors innegehabt und in dieser Funktion auch den Superintendenten des Kirchenkreises Siegen immer wieder vertreten. Dies alles tat aber seiner Schwerpunktarbeit als zuverlässiger und menschennaher Seelsorger in seiner Gemeinde keinen Abbruch.

Ich vermute, dass es keinen Pfarrer im Kirchenkreis Siegen gibt, der über eine solch außergewöhnlich umfangreiche theologische Privatbibliothek verfügte wie er. Als ich seiner Zeit an meiner Examensarbeit saß, und mir wegen der hohen Studierendenzahlen der Zugang zu der einen oder anderen Belegstelle fehlte, genügte oft genug ein Anruf bei Ulrich Weiß, um die entsprechende Auskunft zu erzielen, auch wenn die Literaturangaben noch so speziell waren.


Und dann waren da noch die ganz anderen - privaten - Seiten des Ulrich Weiß. Kam man zu seiner aktiven Pfarramtszeit in sein Arbeitszimmer, fielen einem sofort die Karl- May-Bände ins Auge, denen er - immer griffbereit - im Bücherregal einen Platz in der obersten Reihe eingeräumt hatte. Diese hatten ihn als Jugendlichen stark geprägt und fasziniert und er las auch als Erwachsener immer noch gerne darin. Wissend, dass Karl May diese Länder, die er beschrieb, nie bereist hatte, war ihm doch klar, welch akribische Recherche dieser betrieben haben musste, um seine Bücher so detailgetreu schreiben zu können. Und in gewisser Weise hat Ulrich Weiß es ihm später nachgemacht, wenn er im Stadtarchiv Siegen, besonders nach seiner Pensionierung, in den alten Schriften schmökerte, um spezielle Aspekte der heimischen Geschichte und Theologiegeschichte zu erforschen - zum Schutz der Dokumente mit weißen Handschuhen an den Händen. Außerdem, so wird berichtet, verging in seiner Jugendzeit als Gymnasiast so gut wie keine Busfahrt von Niederdielfen nach Siegen zur Schule und zurück, auf der er nicht mit Mitschülern einen zünftigen Skat drosch. Und auch der Fußballsport begeisterte ihn sehr. Lange Jahre haben wir mit ihm noch im Altherrenbereich beim TV Jahn leidenschaftlich Fußball gespielt. Und er pflegte den Fußball mit derselben Intensität zu traktieren wie bisweilen die biblischen Texte in seinen Predigten.

Mit Ulrich Weiß verliert die Evangelische Kirche des Siegerlandes einen klugen und leidenschaftlichen Streiter für eine menschennahe, klare Theologie, die sich immer gesprächsbereit und aufgeschlossen zeigte. Ulrich Weiß war eine theologische Persönlichkeit, die wohl wie keine zweite Anerkennung auf allen Seiten des bunten Spektrums der Siegerländer Glaubensvielfalt fand, ob im kirchlichen Bereich, im CVJM oder bei den landeskirchlichen Gemeinschaften, ob in der Freikirche - lange Jahre schon findet beispielsweise eine von ihm initiierte gemeinsame Bibelstunde zwischen der Christus-Kirchengemeinde Siegen und der Evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in der Weststraße statt - oder auch bei den Altlutheranern. Überall schätze man seine fundierte theologische Meinung und überall besaß er Freunde, die sein Wissen gerne in Anspruch nahmen. Vielen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Denkungsart und theologischer Prägung war er auch Seelsorger. Die Menschen der Christus-Kirchengemeinde Siegen werden sich noch lange dankbar an ihn erinnern. Er war ein besonderer Typ, ein kantiger und unverwechselbarer Charakter, einzigartig und liebenswert, auch in seiner durchaus überzeugen- den Werbung für den reformierten Akzent protestantischen Glaubens. Der Kirchenkreis hat dies gewürdigt und in Verbindung mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Philosophische Fakultät der Universität unter dem Titel: „Zwischen Kartenspiel und Katechismusschelte - Beiträge zur Kirchengeschichte des Siegerlandes“1 eine Sammlung einiger seiner wichtigsten Aufsätze herausgegeben. 

 

Auch für die Geschichtswerkstatt ist mit Ulrich Weiß ein wichtiger Zeitgenosse, Mitstreiter und Freund gegangen, der auf seinem speziellen und weiten Spezialgebiet der Pietismusforschung, spürbar fehlen wird. Sein besonderes Augenmerk lag dabei vor allem auf dem Spannungsfeld zwischen reformiert geprägtem Glauben, wie er sich über den Heidelberger Katechismus im kirchlichen Leben des Siegener und Wittgensteiner Landes manifestiert hat und der Frömmigkeit der Erweckungsbewegung, die in Teilen - das wird z.B. deutlich an der Lebensgeschichte Jung-Stillings - durchaus einen Gegenpol zum kirchlichen Glaubensleben zu bilden versuchte, obwohl sie sich der reformierten Prägungen nicht gänzlich entledigen wollte und konnte[i].

Seine besondere Liebe galt auch der Martinikirche in Siegen. Hier hatte er schon als junger Gymnasiast Pastor Walter Thiemann bei der Ausgrabung des 1000-jährigen Fußbodenmosaiks geholfen. Seitdem war er ein begeisterter Liebhaber der ältesten Kirche Siegens. Nicht von ungefähr entsprach er deshalb sofort der Bitte, an der im zurückliegenden Jubiläumsjahr 2011 erschienen Festschrift über die Martinikirche mitzuarbeiten. Besonders auch dank seiner fleißigen Arbeit konnte sie im vergangenen Juni, kurz vor seinem Tod, erscheinen:

„ecclesia extra muros - 1311-2011. 700 Jahre Martinikirche in Siegen.“[ii] Darin enthalten sind drei Aufsätze von ihm über spezielle Aspekte der Geschichte der Martinikirche. Es sind die letzten Aufsätze gewesen, die er fertig gestellt hat.

Der Kirchenkreis Siegen und seine Gemeinden, aber auch die regionale Geschichtsforschung verlieren mit Ulrich Weiß einen zuverlässigen und liebenswerten Menschen und Zeitgenossen, dessen hinterlassene Spuren durch seine Schriften und seine besondere Persönlichkeit noch lange nachwirken werden. Und viele Menschen verlieren eine guten Freund und fröhlichen Zeitgenossen.

Raimar Leng

 




[i] Ulrich WEIß, Zwischen Kartenspiel und Katechismus. Beiträge zur Kirchengeschichte des Siegerlandes, hg. von Georg Plasger (= Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, hg. von Veronika Albrecht Birkner und Georg Plasger, Bd. 2) o.O. (Siegen) 2011.

[ii] „ecclesia extra muros“. 1311 - 2011. 700 Jahre Martinikirche in Siegen, hg. von Evangelische Martini-Kirchengemeinde Siegen (= Siegener Beiträge – Jahrbuch für regionale Geschichte, Sonderband 2011), Siegen 2011.







Kommentare